Internationales Privatrecht (1914)

entnommen aus: https://de.wikisource.org/wiki/Internationales_Privatrecht_(1914)

Internationales Privatrecht (1914)

Textdaten
<<< >>>
Autor: Theodor Niemeyer
Titel: Internationales Privatrecht
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band, Drittes Buch, S. 90 bis 101
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
Erscheinungsort: Berlin
Quelle: Scan auf Commons
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

Internationales Privatrecht
Von Geh. Justizrat Dr.Niemeyer, Professor des Internationalen Rechts
an der Universität[1] Kiel

Früher Stiefkind.

I. Fragt man, wie es vor 25 Jahren mit der Kenntnis und praktischen Pflege des internationalen Privatrechts in Deutschland bestellt war, so fällt die Antwort nicht glänzend aus. Die Praktiker wußten im allgemeinen nicht viel mehr von dieser Materie, als daß C. F. v. Savigny (1849) eine zu fast allgemeiner Anerkennung gelangte Theorie aufgestellt hatte, deren Kern in der Formel bestand, es müsse der Sitz der Rechtsverhältnisse im Raum aufgesucht werden, um festzustellen, nach welchem örtlichem Recht jedes gegebene Rechtsverhältnis zu beurteilen sei. Man wußte allenfalls auch noch, daß früher C. G. v. Wächter (1841) etwas anderes gelehrt hatte, nämlich, daß jeder Richter grundsätzlich nur sein eigenes Recht, die lex fori, anzuwenden habe. Kundigere wußten, daß Savignys Theorie teilweise überholt, teilweise fortentwickelt worden sie durch ein 1862 erschienenes berühmtes Buch des damaligen hannoverschen Gerichtsassessors Dr. Ludwig Bar „Das internationale Privat- und Strafrecht“. Aber auch als dieses Buch 1888 in neuer Auflage erschien (zur Feier von Rudolf von Jherings siebzigstem Geburtstag), auf mehr als das Doppelte seines früheren Umfanges angewachsen, mußte der Verfasser sagen, das internationale Privatrecht werde in Deutschland noch als Stiefkind der Rechtswissenschaft behandelt. Diese Vernachlässigung des internationalen Privatrechts von deutscher Seite, während in Frankreich, Italien, Holland, Belgien, der Schweiz, teilweise auch in England, die Materie bereits nicht nur literarische Behandlung, sondern auch akademische Pflege und praktische Beachtung gefunden hatte, erklärt sich vorzugsweise dadurch, daß die deutsche Rechtswissenschaft bis dahin ganz im Banne der romanistischen Technik, der längst von Jhering angeklagten, aber erst seit den 90er Jahren wirklich erschütterten „Begriffsjurisprudenz“ stand, jener Methode, welche nach ihrer Natur nicht über die einzelne, d. h. die eigene, Rechtsordnung hinauszublicken vermochte, und welche Rechtsvergleichung, Rechtsstatistik, Rechtspolitik, internationale Rechtsausgleichung und internationale Rechtsgemeinschaft naturgemäß als Allotria ablehnen mußte. Die Bildung der Juristen wie die Bildung des Rechtes konnte nach jener Methode nur unter das Maß einer einzigen Rechtsordnung, der heimischen, gestellt werden. Hausbackene Solidität, gegründet in der Tradition pandektenmäßiger Schulung (bonus Pandectista bonus Jurista), hielt die deutschen Juristen ab, sich um ausländisches Recht zu kümmern, sei es auch nur in Gestalt der Frage, ob und inwieweit ein [347] ihnen vorgelegter Rechtsfall nicht nach dem eigenen (d. h. dem von ihnen gekannten) sondern vielmehr nach ausländischem, und nach welchem ausländischen Rechte zu beurteilen sei. Dieser Frage suchte die frühere deutsche Rechtsprechung auf jede mögliche Weise auszuweichen. Unverkennbar herrschte das Bestreben, in allen international gelagerten Fällen schließlich doch zur Anwendung des ‚eigenen‘ Rechtes, der lex fori, zu gelangen, sei es nach der Wächterschen Regel: in dubio lex fori, sei es gestützt auf die Vorschrift der deutschen Zivilprozeßordnung, wonach der deutsche Richter nur das Recht seines Staates zu kennen braucht, sei es nach der Formel, die Anwendung ausländischen Rechtes sei durch inländische Prohibitivsätze („ordre public“) ausgeschlossen, sei es endlich gemäß der „präsumtiven“ Intention der Parteien beim Vertragsschluß, oder deswegen weil die Parteien im Prozeß die Maßgeblichkeit ausländischen Rechtes nicht behauptet oder die dieselbe anrufende Partei den Inhalt des fremden Rechtes nicht nachgewiesen habe. Eine geheime Kunstlehre über die Frage, auf welche Weise der deutsche Richter es am besten erreichen könne, der Anwendung ausländischen Rechtes zu entgehen, hätte zu gewisser Zeit vielleicht nicht bloß Erfolge der Heiterkeit erlebt. Jhering hat einmal in geistreichem Sarkasmus herausgefunden, von allen Akademikern, die ein Schiffbruch an fremdsprachiges Gestade werfen würde, sei der Jurist der hilf- und nutzloseste. Daran ist etwas Wahres, namentlich aber für jene Zeiten, da die deutschen Juristen nur die deutsche Rechtssprache verstanden. Französisches Recht kannten nur die Linksrheinländer. Englisch-amerikanisches Recht war die Domäne Auserwählter. Die Fülle romanischen und modernen Rechtsstoffes, wie sie sich in den zahlreichen Gesetzbüchern Mittel- und Südamerikas darbietet, existierte für die deutschen Juristen ebensowenig wie die slawischen Rechtsordnungen, und das eine Welt für sich bildende Recht der Mohammedaner.

Das ist in den letzten 25 Jahren einigermaßen anders geworden.

Wachsen des Sinnes für fremde Rechtsgedanken.

Mit der Abkehr von der reinen Begriffsjurisprudenz, mit dem Verständnis für das Recht als Kulturerscheinung (Kohler), mit der Würdigung seiner Beziehung zu den allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen ist auch der Sinn für Rechtsvergleichung, für die Anerkennung fremder Rechtsgedanken und für die Zulassung fremder Rechtsordnungen bei uns eingekehrt. Es hat sich tatsächlich bei den deutschen Juristen mehr und mehr der Trieb und die Gewohnheit eingestellt, ausländische Verhältnisse, ausländische Sprache, ausländisches Recht kennen zu lernen. Die Zahl der in Paris, Grenoble, Lausanne und Genf, in Oxford oder Cambridge, an der Harvard-Universität oder in Rom studierenden deutschen Juristen ist nicht mehr ganz gering. Die heranwachsende Generation wandelt neue Bahnen.

Die politische Entwickelung des Deutschen Reiches hat dazu das Beste und Entscheidende getan. Der wachsende Wohlstand in Deutschland hat mitgeholfen. Die Erhaltung des Friedens, die Mehrung des Reiches an überseeischen Beziehungen, an internationaler Geltung und an internationalen Aufgaben jeder Art mußte auch die internationale Erstreckung des Rechtsgedankens fördern.

[348] Eine Reihe positiver, von Kaiser Wilhelm II. gegebener Anregungen und Förderungen der internationalen Beziehungen (Austausch-Professoren, Oxford-Stipendien usw.), besonders aber das vorbildlich wirkende Interesse und weitschauende persönliche Verständnis des Kaisers für die internationale Kulturgemeinschaft der Völker und für die Interessensolidarität der Staaten haben in Deutschland jenen Sinn für die internationalen Beziehungen, welcher in den kaufmännischen und technischen Berufen längst vorhanden war, auch im deutschen Juristenstande allmählich erweckt. Kaum irgendwo ist das so schwierig gewesen und so langsam gegangen, wie bei den Juristen. Aber auch hier hat der Funke endlich gezündet.

II. Weit stärker und wichtiger als die soeben angedeutete durchschnittliche Zunahme des Interesses und des Verständnisses der juristischen Praxis gegenüber den Aufgaben des internationalen Privatrechtes ist nun aber der innere und positive Entwicklungsfortschritt, welchen in den letzten 25 Jahren die Wissenschaft des internationalen Privatrechts in Deutschland gemacht hat.

Internationalisten und Positivisten.

Der in den 90er Jahren entbrannte Streit der Internationalisten (Bar, Neumann u. a.) und der Positivisten (Niemeyer, Kahn u. a.) im internationalen Privatrecht hatte den Sinn, daß die letzteren (sich mehr an Wächter anlehnend) als Ausgangspunkt für die Lösung der Fragen des internationalen Privatrechts die einzelne (innerstaatliche) Rechtsordnung nahmen, während die ersteren (mehr Savigny folgend) von vornherein von einem völkerrechtlichen (überstaatlichen) Standpunkt ausgingen. Der Streit war theoretischer und prinzipieller Natur und hätte leicht zu tiefgreifenden praktischen Spaltungen führen können. Dies geschah indessen nicht. Vielmehr bemerkten Positivsten und Internationalisten bald genug, daß sie vermittelst verschiedener Formulierung praktisch zu dem gleichen Ergebnis kamen. Beide Gruppen gelangten zu dem Ergebnis, daß im heutigen Rechtsleben kein Staat die internationale Kulturgemeinschaft ignorieren und deswegen auch kein Staat die Idee internationaler Rechtsgemeinschaft ablehnen kann. Dabei betonen die Internationalisten mehr den unausweichlichen inneren Druck der internationalistischen Forderungen. So sagt Bar: „Das internationale Privatrecht ist in seiner Existenz nicht abhängig davon, daß die Grundlagen durch Staatsverträge oder Gesetze festgesetzt seien. Es besteht, weil es notwendig ist, durch den Zwang der Verhältnisse, durch die Natur der Sache.“ Die Positivisten dagegen betonen, daß die Geltung jener Prinzipien auf der aufgeklärten Erkenntnis und dem autonomen Willen der einzelnen Staaten beruht. Hinsichtlich des Inhalts jener Prinzipien aber brauchten deswegen Positivisten und Internationalisten durchaus nicht verschiedener Meinung zu sein. Tatsächlich hat sich freilich herausgestellt, daß die vorhandene Verschiedenheit der theoretischen Grundauffassung doch auch die Stellungnahme in einzelnen positiven Fragen des internationalen Privatrechts beeinflußt. So z. B. stehen in der Frage der Rückverweisung (Art. 27 EG. z. BGB.) die Positivisten und die Internationalisten in getrennten Lagern.

Eine Vereinigung der Auffassungen (auf unverkennbar positivischer Basis) in [349] glänzendem dialektisch-dogmatischem Aufbau der ganzen Lehre stellt das in den Jahren 1897–1912 erschienene Werk „Internationales Privatrecht“, von E. Zitelmann, dar.

Zeitschrift für Intern. Privatrecht.

III. Eine wesentliche Förderung für Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts brachte die Gründung der ausschließlich dieser Materie gewidmeten „Zeitschrift für internationales Privat- und Strafrecht mit besonderer Berücksichtigung der Rechtshilfe“ durch den bayrischen Oberlandesgerichtsrat Ferdinand Böhm im Jahre 1891. Im Jahre 1896 wurde Mitherausgeber der Zeitschrift Th. Niemeyer, welcher nach Böhms Tode (1901) die Leitung der Zeitschrift allein übernahm. Die Zeitschrift ist seitdem zugleich dem Völkerrecht gewidmet, gemäß der vom Herausgeber vertretenen Auffassung, daß das internationale Privatrecht mit einem Fuße im Privatrecht, mit dem anderen Fuß im Völkerrecht steht, und daß die Flüssigkeit der (weder logisch noch praktisch faßbaren) Grenzen folgender Materien: internationales Privatrecht, Rechtsvergleichung, Rechtsvereinheitlichung, staatsvertragliche Ausgleichung, Völkerrecht, eine alle diese Gebiete überschauende und umfassende Gesamtbehandlung wünschenswert macht.

Lehrstühle.

Ein fernerer Fortschritt ist die in jüngster Zeit mehrfach erfolgte staatliche Erteilung von Lehraufträgen, entweder speziell für internationales Privatrecht (so in München und Bonn) oder in Verbindung mit anderen Gebieten des internationalen Rechtes (so in Leipzig und Kiel). Dem entspricht die nicht mehr geringe Zahl der an den deutschen Universitäten nicht wie früher nur angekündigten, sondern auch wirklich und unter reger Beteiligung der Studierenden abgehaltenen Vorlesungen und Übungen über internationales Privatrecht. In Kiel wurde auf Grund einer Stiftung des 1905 verstorbenen, um die Wissenschaft des internationalen Privatrechts durch seine positivistischen Forschungen verdienten Franz Kahn (Mannheim) eine Spezialbibliothek für internationales Privatrecht (Franz-Kahn-Bibliothek) gegründet.

IV. Wenn im vorstehenden der Begriff und der Inhalt des internationalen Privatrechts als bekannt und feststehend vorausgesetzt worden ist, so durfte das in Anpassung an das Herkommen insofern geschehen, als die soeben skizzierten Entwicklungsvorgänge sich im wesentlichen auf dasjenige Gebiet beziehen, welches seit mehreren Menschenaltern in Deutschland mit dem in der Überschrift angewendeten Ausdruck bezeichnet zu werden pflegt, nämlich die von Wächter und Savigny als Bestandteil des privatrechtlichen Systems behandelte und seitdem in Lehrbüchern und Vorlesungen des Zivilrechts (bis 1900 in den Pandekten und im deutschen Privatrecht, seitdem im deutschen bürgerlichen Recht) vorgetragene Lehre von dem, wie man sagte, „örtlichen“ Geltungsgebiet der Privatrechtssätze.

Teil des Staats- und Verwaltungsrechts.

Aber seit Wächter und Savigny hat sich unter dem Gewande der alten Bezeichnung so viel Neues und Beträchtliches entwickelt, daß es sich, ehrlich gesagt, nur aus der Macht [350] der Gewohnheit erklärt, wenn man den alten Ausdruck noch beibehält. Was früher so hieß, deckte sich in der Hauptsache mit der alten Lehre von der – privatrechtlichen – Statutenkollision, und wie Friedrich Meili, der verdiente schweizerische Vorkämpfer für Modernisierung des internationalen Privatrechts überzeugend dargetan hat, ist die gemeinrechtliche Lehre über die alte (von Bartolus herrührende, daher auch als bartolinische Lehre bezeichnete) Statutentheorie nicht hinausgekommen. In den jüngst verflossenen Jahrzehnten aber ist die Wissenschaft zu der Erkenntnis gekommen, daß diese Lehre nur ein kleiner Ausschnitt aus Problemenreihen größten Stiles ist. Man hat vor allem erkannt, daß die Probleme, welchen man zunächst auf dem Gebiet des Privatrechts begegnet war, und deren Gegenstand man deswegen als internationales Privatrecht bezeichnet hatte, durch das gesamte Gebiet des öffentlichen Rechtes (mit Ausnahme vielleicht – aber auch nur vielleicht – des Völkerrechtes) hindurchgehen. Am frühesten bemerkte man dies für das Strafrecht (daher auch Böhms „Zeitschrift für internationales Privat- und Strafrecht“). Aber sehr bald mußte man auch darauf aufmerksam werden, daß das Prozeßrecht (Straf-, Zivil-, Konkurs-Prozeß) entsprechende Erscheinungen und Probleme bietet. Und zuletzt (besonders ist es Karl Neumeyers Verdienst, dieses Gebiet aufgeklärt und gefördert zu haben) wurde entdeckt, daß das Staats- und Verwaltungsrecht eine Fülle gleichartiger Probleme enthält, so daß man neben dem internationalen Privatrecht im alten Sinn nicht nur von internationalem Straf-, Prozeß-, Verwaltungs-, sondern auch von internationalem Schulrecht, internationalem Finanzrecht, internationalem Arbeiterversicherungsrecht spricht. Wissenschaftliche und praktische Aufgaben von unübersehbarem Umfang und von ebenso großem wissenschaftlichem Reiz wie von praktischer Wichtigkeit sind hiermit gegeben. Ganze Provinzen des internationalen Rechtslebens harren hier noch der wissenschaftlichen Pflugschar. Als leicht verständliche Beispiele seien hier die Fragen der Staatsangehörigkeit der Personen, der Nationalität der Schiffe, der militärischen Dienstpflicht, des Geschworenendienstes, der Steuer-, Schul-, Versicherungspflicht im Ausland, die Fragen der Weltausstellungen, der wissenschaftlichen Expeditionen, der Kriminalpolizei auf hoher See genannt.

Völkerrechtliche Seite.

Daß Fragen auch eine völkerrechtliche Seite haben, ist keine Eigentümlichkeit gegenüber den früher erörterten Fragen. Denn jedes Problem des internationalen Privatrechts, auch im alten Sinn, hat eine völkerrechtliche Seite. Alle diese Fragen – um es allgemeinverständlich zu sagen – können durch völkerrechtliche Verträge geregelt werden. Sie finden auf diese Weise meist ihre beste Lösung. Und das ist die tief in der Sache begründete Folge ihrer Natur. Denn abgesehen von dem auf einem anderen Blatt stehenden sog. interlokalen Privatrecht, das die Rechtsverschiedenheiten innerhalb eines Staates betrifft, ist alles internationale Privatrecht dem Maßstab des Ausgleiches internationaler Divergenzen unterworfen. Dies ist auch dann zutreffend, wenn der Ausgleich zunächst mißlingt. Wie die noch nicht gelösten Probleme des Völkerrechts neben den bereits gelösten den Gegenstand der Völkerrechtswissenschaft bilden, so sind auch die Diskrepanzen des [351] internationalen Privatrechts ebenso der Gegenstand seiner Lehren wie seine positiven Normen. Das ist der Sinn, in welchem heute das internationale Privatrecht als Wissenschaftsdisziplin besteht.

Erstreckung über alle Zweige der Rechtsordnung.

V. Es ist mit den letzten Bemerkungen bereits darauf hingewiesen, daß die heute erkannte und betätigte Erstreckung des internationalen Privatrechts über alle Zweige der gesamten Rechtsordnung mehr bedeutet als die Durchführung eines bloßen Querschnittes durch die gesamten Einzeldisziplinen hindurch. Die Auffassung, welche dieses letztere annimmt, wird zwar noch vereinzelt vertreten, kann aber gegenüber dem Inbegriff der modernen Entwickelung nicht mehr standhalten. Daß in jedem einzelnen Abschnitt des Rechtes, ja bei fast jedem einzelnen Rechtsinstitut, sich Gelegenheit bietet und das Bedürfnis bestehen kann, die internationale Beziehung zu untersuchen, oder wie man auch sagt, „den örtlichen Geltungsbereich der Rechtssätze zu untersuchen“, hat dazu geführt, daß in jeder einzelnen Disziplin ein Abschnitt dieser Lehre gewidmet zu werden pflegt, oder daß gar bei jedem einzelnen Rechtsinstitut die international-privatrechtliche Frage erörtert wird. Dadurch kann aber die systematische Behandlung des internationalen Privatrechts im ganzen wissenschaftlich nicht ersetzt werden. Dieses Ganze ist nicht nur mehr, sondern es ist auch etwas anderes als die Summe jener Teile. Denn nur bei systematischer Untersuchung der Gesamtheit aller Beziehungen des Inhaltes der verschiedenen Rechtsordnungen zueinander kann man zu überragender Erkenntnis der Probleme und zu ihrer methodisch sicheren Lösung gelangen. Nur auf jener breiten Grundlage erwächst die Rechtsvergleichung als Wissenschaft. Ohne diese ist das internationale Privatrecht ein Chaos von zufällig zusammengeworfenen Fallfragen. Nur die Rechtsvergleichung ergibt die theoretische, d. h. richtige Fragestellung für das internationale Privatrecht. Insofern ist die Rechtsvergleichung (d. h. das vergleichende Studium der verschiedenen modernen Rechtsordnungen in allen ihren Teilen) Bestandteil des internationalen Privatrechts. Auch diese Erkenntnis ist erst in den letzten Jahrzehnten gewonnen worden und zu praktischer Geltung gekommen.

VI. Eines der wichtigsten aus der neuen Methodik entsprungenen Ergebnisse ist die Einsicht, daß die einzelnen Rechtssätze der verschiedenen Rechtsordnungen nur zu einem verhältnismäßig geringen Teil zueinander im Verhältnis jener Kommensurabilität stehen, welche man früher in großer Unbefangenheit im allgemeinen als selbstverständlich voraussetzte. Wir wissen heute, daß man zwar die verschiedenen Großjährigkeitstermine der einzelnen Rechtsordnungen, Ehehindernisse und Ehescheidungsgründe, Viehmängellisten beim Kauf, Formvorschriften und vieles andere dieser Art auf einen gemeinsamen Nenner bringen und dann mittels einer Kollisionsnorm verhältnismäßig glatt zur Entscheidung bringen kann. Dagegen erweisen sich z. B. die verschiedenen Systeme der Nichtigkeit und Anfechtung der Rechtsgeschäfte, und manche elementar scheinende Grundsätze des Rechtes der Schuldverhältnisse als inkommensurabel und darum als der elementaren internationalprivatrechtlichen Behandlung, wie wir [352] sie von Savigny her gewohnt sind, unzugänglich. Auch sogar auf dem Gebiet des so besonders internationalistischen Materien des Wechselrechtes und des Seerechtes gibt es dafür Beispiele.

Inkommensurabilität verschiedener Rechtsordnungen.

Die Erkenntnis der in dieser Richtung entstehenden Schwierigkeiten, welche mit dem Stichwort Inkommensurabilität der Rechtssätze verschiedener Rechtsordnungen hier nur andeutungsweise bezeichnet werden können, mußte eine doppelte Folge haben, nämlich einerseits den notgedrungenen Verzicht auf die Anwendung solcher inkommensurabler ausländischer Rechtssätze trotz des an und für sich vorhandenen Willens der Rechtsordnung und der Rechtspflegeorgane, dem ausländischen Recht Respekt und Anwendung zu geben – andererseits die Einsicht, daß in solchen Fällen internationale Kollisionsnormen nicht zureichen, sondern internationale Rechtsvereinheitlichung nötig ist, um Rechtssicherheit im internationalen Verkehr zu erzielen. Es hat sich dabei herausgestellt, daß nicht nur im Verhältnis zu Rechtsordnungen wesensungleicher Kulturen (chinesisches, mohammedanisches Recht), sondern auch z. B.im Verhältnis zwischen den europäischkontinentalen Rechtssystemen und dem angloamerikanischen Recht so tiefgehende Inkommensurabilitäten bestehen, daß ihnen weder mit Kollisionsnormen noch mit Rechtsvereinheitlichung beizukommen ist, daß vielmehr weitgreifende Umgestaltungen auf der einen oder der anderen Seite oder auf beiden Seiten der Rechtsvereinheitlichung als prius vorausgehen müßten. Der schon erwähnte Gegensatz zwischen dem europäischkontinentalen (auch heute noch wesentlich römischen oder richtiger romanistischen) und dem englischamerikanischen Recht ist der wichtigste Fall dieser Art. Es wird nicht zu kühn sein, wenn man hier die Annäherung, Ausgleichung und schließliche Lösung der Diskrepanz (teils durch Kollisionsnormen, teils durch Rechtsvereinheitlichung oder Rechtsübereinstimmung) von einer Entwickelung erwartet wird, die auf dem europäischen Kontinent durch das Stichwort Freirechtsbewegung (ich möchte lieber sagen: Rechtsbefreiungsbewegung) in England und Amerika durch die Schaffung moderner Kodifikationen gekennzeichnet werden mag.

Am nochmals zusammenzufassen: Für die heutige Wissenschaft des internationalen Privatrechts bildet das alte Problem der privatrechtlichen Statutenkollision nur den historischen Ausgangspunkt zur Erfassung aller jener Probleme, welche sich historisch, dogmatisch, rechtspolitisch im internationalen Verhältnis der einzelnen staatlichen Rechtsordnungen zueinander darbieten.

Damit ist die Wissenschaft des internationalen Privatrechts als ebenbürtige Schwester der Völkerrechtswissenschaft charakterisiert, ohne deren Hilfe sie ihre höchsten Aufgaben nicht erfüllen kann, während andererseits auch die Völkerrechtswissenschaft auf die Disziplin des internationalen Privatrechts als ihre unentbehrliche Helferin, je länger je mehr angewiesen ist. Die französische Rechtswissenschaft gebraucht demgemäß die Bezeichnungen droit international privé und droit international public im Sinne vollkommener Ranggleichheit. Die in Deutschland übliche Bezeichnung „Völkerrecht“ läßt bei uns eine entsprechende Namengebung nicht aufkommen.

[353] VII. Bevor zu der Darstellung der glänzenden Entwickelung übergegangen wird, welche die Materie des internationalen Privatrechts in Deutschland in den letzten 25 Jahren mittelst der völligen Umgestaltung der Gesetzgebung, sowie mittelst jener Reihe ruhmvoller Staatsverträge genommen hat, welche das Deutsche Reich von 1890 bis 1912 abgeschlossen hat, muß hier zunächst noch der Arbeit gedacht werden, welche in demselben Zeitraum in Gestalt literarischer Unternehmungen und in wissenschaftlichen Gesellschaften und Kongressen in und von Deutschland geleistet worden ist.

Literarische Unternehmungen. Weltbibliothek des Rechts.

Dabei ist in erster Linie eine Reihe bedeutender Arbeiten zu verzeichnen, welche durch Übermittelung der Kenntnis ausländischen Rechtes nicht nur wissenschaftliche Grundlagen gegeben, sondern auch durch Gewährung sicheren Überblicks über das im Auslande geltende Recht den Rechts- und Handelsverkehr Deutschlands mit den übrigen Ländern des Erdballs praktisch gestützt und gefördert haben. Um nur das Allerwichtigste zu nennen: Eine Sammlung der zahlreichen Handelsgesetzbücher des Erdballs mit deutscher Übersetzung (Begründer Borchardt), eine systematische Darstellung des Staatsrechts jedes einzelnen ausländischen Staates (Jellinek, v. Laband, Piloty), eine Zusammenstellung aller ausländischen Verfassungsordnungen (Posener), eine Sammlung der Patentgesetze der Erde (Kohler), eine vergleichende Darstellung des Strafrechtes aller Länder (v. Liszt u. a.), ein Handbuch der Rechtsverfolgung im internationalen Verkehr (Leske, Loewenfeld) sind in dieser Zeit von deutschen Gelehrten und von deutschen Verlegern unternommen und durchgeführt. Diese Publikationen bilden eine Weltbibliothek des Rechtes, an deren Möglichkeit in Deutschland vor 25 Jahren noch gar nicht zu denken war. Zwei neugegründete Jahrbücher (eines von der Berliner Internationalen Vereinigung, unter F. Meyer, das andere von Rechtsanwalt Wertheim veranstaltet), sind dem modernen internationalen Rechtsstoff auf dem Gebiete des Privat- und öffentlichen Rechtes gewidmet, während die – ältere – Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft (Bernhöft, Kohler) sich vorzugsweise mit der rechts- und sittengeschichtlichen Erforschung älterer Perioden und unentwickelter Kulturstufen befaßt. Während derartige Unternehmungen früher als Vorrecht der französischen und englischen Sprach- und Kulturgebiete galten, ist nunmehr Deutschlands Platz an der Sonne auch auf diesem Gebiete gesichert.

Gesellschaften.

Von Bedeutung für die internationalprivatrechtliche Entwickelung sind endlich verschiedene in unserer Zeit in Deutschland gegründete Gesellschaften, als deren wichtigste hier nur genannt seien: Die deutsche Landesgruppe der Internationalen kriminalistischen Vereinigung (1889 gegründet), die Internationale Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Berlin (1894), der Deutsche Seerechtsverein, Landesgruppe des „Comité Maritime International“ (1898), die Deutsche Vereinigung für internationales Recht, Landesgruppe der „International Law Association“ (1912).

[354]

Bürgerliches Gesetzbuch.

VIII. Das für die Gesamtheit der Rechtsentwickelung in Deutschland wichtigste Ereignis unserer Epoche, die Schaffung des einheitlichen deutschen bürgerlichen Rechtes, ist auch für das internationale Privatrecht von größter Bedeutung gewesen. Freilich ist diese Seite des Gesetzbuches nicht durchweg erfreulich. Es wird fast allgemein als ein bedauerlicher Mangel angesehen, daß das Deutsche Reich diese Gelegenheit hat vorübergehen lassen, ohne eine allseitige Kodifikation der Materie des internationalen Privatrechts (im alten Sinn) vorzunehmen, d. h. in eine erschöpfende Regelung der Frage einzutreten, inwieweit bei international gelagerten Tatbeständen deutsches, inwieweit ausländisches, und welches ausländische Recht anzuwenden sei. Anstatt dessen hat man in den Artikeln 7–31 des Einführungsgesetzes nur eine Reihe fragmentarischer Vorschriften mit höchst bestrittenem Inhalte gegeben.

Die beiden Gesetzgebungskommissionen (die erste 1887, die zweite 1891) hatten eine kodifikatorische Regelung des internationalen Privatrechts im Rahmen des BGB. für geboten erklärt, und beide Kommissionen hatten dem Reichskanzler Entwürfe für eine solche Regelung vorgelegt. Fürst Bismarck hat aber 1887 den ihm vorgelegten Entwurf gar nicht an den Bundesrat gelangen lassen, weil er der Ansicht war, daß durch eine derartige Kodifikation dem anzustrebenden Abschluß von Staatsverträgen vorgegriffen würde. Im Jahre 1896 wurde der Entwurf der zweiten Kommission (dieser war als sechstes Buch des BGB. vorgelegt) zwar dem Bundesrat unterbreitet. Aber zufolge des Einspruches des der Bismarckischen Auffassung folgenden Auswärtigen Amtes wurde innerhalb des Bundesrates (mit Überweisung an das preußische Staatsministerium) eine Revision vorgenommen, welche zu der bruchstückartigen Gestaltung der Materie (ein nahe beteiligter hoher Staatsbeamter sagte: Verunstaltung) führte, die dann vom Reichstag ohne weiteres gutgeheißen wurde.

Die Mängel, welche der auf diese Weise Gesetz gewordenen Regelung vorgeworfen werden, liegen vor allem darin, daß große Materien des Privatrechts gar nicht geregelt sind. Am fühlbarsten ist dies auf dem großen und wichtigen Gebiet der Vertragsverpflichtungen, das heißt also der unendlich zahlreichen Handelsbeziehungen Deutschlands zum Ausland, besonders auch nach Übersee. Es konnte daher jüngst gesagt werden: „Deutschland steht im Weltverkehr mit einem auswärtigen Handel im Werte von jährlich rund 15 000 Millionen M., nur von Großbritannien übertroffen, an zweiter Stelle. Welches Recht aber auf Kauf und Verkauf im Auslande anzuwenden ist, das steht auch nach Einführung des BGB. noch nicht fest.“ Die dadurch bedingte „Elastizität“ der Rechtsprechung bietet, wie nunmehr auf Grund der inzwischen gemachten Erfahrung gesagt werden darf, weit mehr Nachteile als Vorteile; denn sie bedeutet Rechtsunsicherheit – den dem Handel unerwünschtesten Zustand. Dabei darf nicht verschwiegen werden, daß speziell auf dem Gebiete des Obligationenrechtes die Bismarckische Ablehnung der Regelung durch die Vertretung der Hansastädte unterstützt worden sein soll, weil man dort eben jene Elastizität wünschte.

Eine andere Art von Lücken ist in unserem Gesetzeswerk in der Weise entstanden, daß seine Vorschriften zum großen Teil zu bestimmen unterlassen, welches Auslandsrecht [355] auf einen gegebenen Tatbestand in jenen Fällen Anwendung zu finden habe, in denen die Anwendung des deutschen Rechtes nicht vorgeschrieben ist. Dieser Art der Regelung hat s. Z. in einer höchst merkwürdigen Wendung der bayrische Ministerialrat Schnell und später H. Neumann das Wort geredet, mit der Begründung, das Deutsche Reich habe nicht die sachliche Zuständigkeit, den Anwendungsbereich der verschiedenen Auslandsrechte gegenseitig abzugrenzen. Diese sog. Theorie der Zuständigkeitserwägung ist von der deutschen Wissenschaft und Praxis überwiegend abgelehnt worden. Die Praxis hat jene Art der Regelung nicht als besonders weisheitsvoll, sondern als schlechterdings mangelhaft behandelt. Sie hat dementsprechend die Lücken so ausgefüllt, wie es auch in anderen Fällen der Lückenhaftigkeit unserer Gesetze zu geschehen pflegt, nämlich durch Analogie, d. h. durch Anwendung des der Regelung zugrunde liegenden Grundgedankens auf die nicht geregelten Tatbestände. Damit ist denn im Ergebnis der Fehler des Gesetzgebers unschädlich gemacht. Die vom Gesetzgeber nicht gegebene Rechtssicherheit ist durch Gerichtsgebrauch hergestellt. Es handelt sich im einzelnen um folgendes.

Rechtsunterstellung nach Staatsangehörigkeit.

Unser Gesetzgeber hat die Staatsangehörigen des Deutschen Reiches in weitestem Maß dem deutschen Recht unterstellt, und zwar gleichgültig, wo sie sich aufhalten, wo sie wohnen, wo sie sterben. Das ist eine nationale Verbesserung des vor 1900 in Deutschland (mit Ausnahme des außerpreußischen französischrechtlichen Gebietes) in Geltung gewesenen Rechtszustandes, nach welchem das Recht des Wohnsitz es entscheidend war und nach welchem – ganz widersinnig – häufig deutsche Gerichte ausländisches Recht anzuwenden hatten in Fällen, in denen ausländische Gerichte deutsches Recht anwendeten. Unser Gesetzgeber hat nun aber nicht die Konsequenz gezogen, auch für Ausländer in den gleichen Beziehungen die Maßgeblichkeit ihres Heimatrechtes vorzuschreiben. Er hat sich, wie man sich fachlich ausdrückt, mit „einseitigen Kollisionsnormen“ begnügt, d. h. er hat sich auf eine Regelung bezüglich der Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit beschränkt, die Ausländer aber überhaupt von der Regelung ausgeschlossen. Dafür ist, wie schon angedeutet, der politische Gedanke maßgebend gewesen, daß man Ausländern Rechtssicherheit nur in der Form von Staatsverträgen geben solle. Es scheint dabei aber in der Tat übersehen zu sein, daß nicht nur Ausländer an der Rechtssicherheit bezüglich der sich an sie anknüpfenden Rechtsverhältnisse interessiert sind, sondern sehr oft auch Deutsche. Auch Deutsche können z. B. daran interessiert sein, daß Rechtssicherheit hinsichtlich der Gültigkeit von Ausländerehen besteht. Die theoretische Begründung der „Zuständigkeitserwägung“ paßt übrigens zu jenem politischen Gedanken keineswegs, denn sie beruht auf doktrinärem Zartgefühl gegenüber anderen Staaten, während der Bismarckische Gedanke auf die Forderung eisernen und rücksichtslosen Druckes gegen solche Staaten hinausläuft, welche sich der staatsvertraglichen Festlegung der Gegenseitigkeit entziehen.

Die deutsche Rechtsprechung hat, wie gesagt, die Lücke durch Anwendung des Staatsangehörigkeitsprinzipes auch auf Ausländer ausgefüllt. Es haben sich auch keine nachteiligen [356] politischen Folgen dieser Praxis gezeigt. Die Reichsregierung hätte übrigens zufolge Art. 31 des Einführungsgesetzes gegen Benachteiligung deutscher Interessen durch die ausländische Gesetzgebung oder Praxis das Mittel der Retorsion anwenden können. Sie hat keine Veranlassung gefunden, davon Gebrauch zu machen. Das hängt allerdings wohl auch mit den nunmehr darzulegenden internationalen Entwickelungsvorgängen wichtigsten Inhaltes zusammen, welche mehr als alles bisher Erwähnte dem internationalen Privatrecht unserer Zeit das Gepräge geben.

IX. In den Jahren1902–1913 sind vom Deutschen Reich zwei Gruppen von Staatsverträgen abgeschlossen worden, von denen die erste mit dem Sammelnamen „Haager Abkommen über internationales Privat- und Prozeßrecht“ bezeichnet wird, die andere die Internationale Vereinheitlichung des Wechselrechts sowie die Vereinheitlichung des Seerechts zum Inhalte haben.

Haager Abkommen.

Die erste Gruppe umfaßt sechs Konventionen: die drei am 12. Juni 1902 abgeschlossenen Abkommen betr. Eheschließung, betr. Ehescheidung, betr. Vormundschaft über Minderjährige und die drei am 17. Juli 1905 abgeschlossenen Abkommen über die persönlichen und vermögensrechtlichen Wirkungen der Ehe, über Entmündigung, über den Zivilprozeß.

Die fünf zuerst genannten Abkommen kann man als staatsvertragliche Kodifikation der wichtigsten Materien des internationalen Familienrechts bezeichnen. Alle diese Abkommen sind ratifiziert worden von Frankreich, Italien, den Niederlanden, Portugal, Rumänien, das letzte außerdem auch von Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Spanien, Luxemburg, Norwegen, Rußland, Schweden, Schweiz. Die ersten drei Abkommen sind auch durch Ungarn, Belgien, Luxemburg, Schweden, die Schweiz ratifiziert, das dritte außerdem auch durch Spanien, das vierte auch durch Schweden, das fünfte auch durch Schweden, Österreich und Ungarn.

Ihrem Inhalte nach stehen die vier zuerst genannten Verträge zueinander in einem näheren inneren Verhältnis. Sie setzen für das Gebiet des Ehe- und Vormundschaftsrechtes das Prinzip in Kraft, daß für jede Person das Recht des Staates, dessen Angehöriger sie ist, maßgebend ist. Das ist die auch in der neuen deutschen Gesetzgebung aufgestellte Grundregel.

Das letzte Abkommen ist in gewissem Sinn noch wichtiger als die vorhergehenden. Es stellt ein System internationaler Rechtshilfe her. Die Zustellung von Urkunden von Land zu Land, das Ersuchen um Vornahme gerichtlicher Handlungen von den Gerichten eines Staates an diejenigen eines anderen sind praktisch, liberal und durchgreifend geregelt. Die berüchtigten Ausländervorschüsse für die Gerichtskosten sind aufgehoben. Armenrecht im Prozeß wird den Staatsangehörigen aller Vertragsstaaten ebenso wie den Inländern gewährt. Kurz, die Vertragsstaaten sind in eine Art Gerichtsgemeinschaft getreten, welche dem modernen Begriff internationaler Kultur- und Rechtsgemeinschaft der Staaten in bezug auf die Rechtshilfe und Rechtsverfolgung im Ausland eine bis dahin schmerzlich entbehrte Realität gibt.

[357] Daß sowohl die Zahl der beigetretenen Staaten (es hat sich für diese bereits der Fachausdruck „Konventions-Inland“ gebildet) als der Umfang der geregelten Materien weit hinter dem an sich Wünschenswerten zurückbleibt, liegt auf der Hand. Aber wer die Vorgeschichte dieser Bestrebungen, zunächst von 1865 (Mancini und Asser) bis 1893, und dann von der in letzterem Jahr stattgehabten ersten Haager Privatrechtskonferenz bis heute verfolgt, muß gestehen, daß hier die Grundlegung eines Werkes gelungen ist, dessen Fortführung so gewiß zu erwarten ist, wie irgendeine in der Natur der Sache unausweichlich gegebene Fortschrittsnotwendigkeit. Daß die Mitarbeit der deutschen Regierung an diesem Werke, obwohl zuerst (1893) nur zögernd gewährt, immer kräftiger und einflußreicher, zuletzt maßgebend geworden ist, muß hier mit besonderer Befriedigung festgestellt werden.

Seerechts-Konventionen. Wechselrechts-Konvention.

Auch an dem Zustandekommen der überaus wichtigen Vereinheitlichungs-Konventionen: 1. der beiden Seerechts-Konventionen vom 23. September 1910, 2. der Wechselrechts-Konvention vom 23. Juli 1912 hat die deutsche Regierung einen hervorragenden Anteil. Die Seerechts-Konventionen stellen einheitliche Rechtssätze über die Ersatzpflicht bei Zusammenstößen von Seeschiffen und über Hilfeleistungs- und Bergungsdienste bei Seenot auf. Sie sind am 1. Februar 1913 in Brüssel vom Deutschen Reich und von folgenden Staaten ratifiziert worden: Österreich-Ungarn, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Mexiko, den Niederlanden, Rumänien, Rußland. Das zweite Übereinkommen ist außerdem von den Vereinigten Staaten von Amerika ratifiziert.

Auch hier handelt es sich um völlig neue rechtliche Entwickelungsvorgänge, um die ersten grundlegenden Schöpfungen im Gebiete wirklichen Weltrechtes.

Noch größer ist die Bedeutung der Welt-Wechselrechts-Konvention, welche außer von Deutschland von folgenden Staaten gezeichnet ist und zweifellos alsbald ratifiziert werden wird: Argentinien, Österreich, Belgien, Brasilien, Bulgarien, Chile, Dänemark, Frankreich, Guatemala, Italien, Luxemburg, Mexiko, Montenegro, Niederlande, Nicaragua, Norwegen, Ungarn, Panama, Paraguay, Rußland, Salvador, Serbien, Türkei, Schweden, Schweiz.

Wenn Kaiser Wilhelm II. am 7. Januar 1891 dem Generalpostmeister v. Stephan sein Bild mit der Unterschrift schenkte: „Die Welt am Ende des 19. Jahrhunderts steht unter dem Zeichen des Verkehrs; er durchbricht die Schranken, welche die Völker trennen, und knüpft zwischen den Nationen neue Beziehungen an“, so hat dieses Wort ohne weiteres auch für die internationale Entwickelung des Rechtes und insbesondere für die Entwickelung des internationalen Privatrechts in derjenigen Zeitepoche Geltung, welcher die vorstehende[2] Skizze wie dieses ganze Werk gewidmet ist.

Stand: 21. Mai 2014




Das bürgerliche Recht (1914)

entnommen aus: https://de.wikisource.org/wiki/Das_b%C3%BCrgerliche_Recht_(1914)

Das bürgerliche Recht (1914)

Textdaten
<<< >>>
Autor: Konrad Hellwig
Titel: Das bürgerliche Recht
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band, Drittes Buch, S. 3 bis 12
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
Erscheinungsort: Berlin
Quelle: Scan auf Commons
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

Das bürgerliche Recht
Von Geh. Justizrat Prof. Dr. Hellwig, Berlin †

Das bürgerliche Gesetzbuch.

Die Jahrzehnte, die seit der Gründung des Norddeutschen Bundes und des neuen Reichs verflossen sind, sind ausgezeichnet durch eine wohl als beispiellos zu bezeichnende Fruchtbarkeit der Gesetzgebungstätigkeit. Erstaunlich ist der Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Gesetze, die dazu bestimmt waren, die politischen Verhältnisse und die Wehrhaftigkeit des Volkes zu ordnen und das neue Haus wohnlich einzurichten. Übersieht man die Entwicklung, die das Privatrecht und das mit ihm in enger Verbindung stehende Zivilprozeßrecht in den letzten 25 Jahren gehabt hat, so muß als das wichtigste Ereignis der Erlaß des „Bürgerlichen Gesetzbuchs“ bezeichnet werden. Am 18. August 1896, einem der denkwürdigen Erinnerungstage des großen Krieges, vollzog Kaiser Wilhelm II. das nach mühseliger, langer Arbeit endlich zustande gekommene Gesetz. Der 1. Januar 1900, an dem es mit den es ergänzenden Gesetzen in Kraft trat, ist ein Tag von der allergrößten Bedeutung für die Geschichte des deutschen Rechts und damit des deutschen Volkes, ein Tag, der noch wichtiger ist als der 1. Oktober 1879, an dem die alsbald nach Gründung des Reichs in Angriff genommenen und rascher zustande gebrachten Reichsjustizgesetze zum ersten Male von den deutschen Gerichten angewendet wurden. Denn so wichtig die Prozeßgesetze für die Allgemeinheit sind, so berühren sie doch die große Masse der einzelnen lange nicht so stark, wie die Regelung des bürgerlichen Rechts. Weite Kreise des Volkes treten während des ganzen Lebens weder vor ein Straf- noch vor ein Zivilgericht und empfinden deshalb die Gemeinsamkeit oder Verschiedenheit der Prozeßeinrichtungen und ihre Güte oder ihre Mängel nicht an sich selbst. Ganz anders ist es beim bürgerlichen Recht. Denn dieses – das Personen-, Familien- und Vermögensrecht – greift in das Leben eines jeden einzelnen tausendfältig ein, weil es die Verhältnisse regelt, in denen die einzelne Persönlichkeit lebt und sich entwickelt. Deshalb wird durch die Rechtsverschiedenheit das Gefühl der Zusammengehörigkeit mehr oder weniger stark beeinträchtigt, und umgekehrt gibt es kein Mittel, wodurch dieses Gefühl mehr gefestigt wird, als durch die Gemeinsamkeit des Rechts, namentlich auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts. Kluge Staatsmänner haben das wohl erkannt. Aus neuerer Zeit sei nur an Friedrich den Großen und Napoleon erinnert. Erst der große König vollendete das vom Beginne des 18. Jahrhunderts datierende Werk der Zusammenschweißung der preußischen Staaten zu einem einheitlichen Organismus; zu den großen Mitteln, mit denen er diese gewaltige Aufgabe löste, gehörte auch die Vereinheitlichung des Rechts, [260] die unter dem Einflusse seiner machtvollen Persönlichkeit gelang. Napoleon war sich nicht nur darüber klar, wie groß der Wert eines einheitlichen Rechts für die Erziehung des französischen Volkes zu einem starken Nationalitätsbewußtsein sein mußte, sondern seine Staatsklugheit führte ihn auch dazu, dieselben Kräfte in den von ihm eroberten Reichen wirken zu lassen. Angesichts solcher Lehren der Geschichte ist es geradezu auffallend, daß die Kompetenz des Reichs erst nach mehreren vergeblich gebliebenen Anträgen im Jahre 1873 auf das ganze bürgerliche Recht ausgedehnt wurde. Man hatte noch nicht genügend erkannt, daß nächst der Sprache das Recht eines der stärksten nationalen Bande ist.

Rechtseinheit und staatliche Einheit.

Rechtseinheit und staatliche Einheit stehen in Wechselwirkung. Jene steigert die Festigkeit von dieser, weil sie das Gefühl der Zusammengehörigkeit vermehrt. Aber die Rechtseinheit setzt die staatliche Einheit voraus. Deshalb hat das deutsche Volk jene erst errungen, nachdem das Blut aller deutschen Stämme auf Frankreichs Schlachtgefilden geflossen war. Die Sehnsucht nach einem einheitlichen deutschen Recht erwachte erst, als nach der Beseitigung der französischen Fremdherrschaft der Gedanke an eine engere staatliche Einigung des deutschen Volkes die Gemüter der Patrioten zu bewegen anfing. Der Ruf nach deutscher Rechtseinheit war aber im Grunde nur ein Ausdruck der Sehnsucht nach staatlicher Einigung. Nur Unreife des politischen Urteils konnte zu der Einbildung führen, man könne jene ohne diese erreichen. Die sog. historische Schule, die unter Führung von Savigny dem von Heidelberg (Thibaut) ausgehenden Verlangen nach einem deutschen bürgerlichen Gesetzbuch entgegentrat, mußte deshalb einstweilen siegreich bleiben, so hinfällig auch die Gründe waren, mit denen „der Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung“ von Savigny (1814) bekämpft wurde. Sie waren hinfällig, wie das unter dem großen König vollbrachte Gesetzgebungswerk gezeigt hatte und das Zustandekommen der musterhaft gearbeiteten Wechselordnung und des Handelsgesetzbuchs nach wenigen Jahrzehnten noch deutlicher zeigte.

Ein Reich, ein Recht! Dieses Ziel wurde auf dem Gebiete des Privatrechts erst zum 1. Januar 1900 erreicht. Bis dahin waren hier nur einzelne Privatrechtsgesetze erlassen. Sehen wir auf das Ganze, so kann man sagen: Erst das BGB. erlöste uns aus der bisherigen unseligen Zerrissenheit unserer Rechtszustände, die nur ein Spiegelbild unserer staatlichen Zustände waren. Wie wir uns diesen in langer Entwicklung erst dadurch entwanden, daß Preußen so erstarkte, daß unter seiner Führung das neue Reich gegründet werden konnte, so mußte auch erst Preußen mit der Vereinheitlichung seines Rechts vorangehen, ehe wir zum deutschen Zivilgesetzbuch gelangen konnten. Aber auch in einer andren Beziehung haben wir das Spiegelbild der staatlichen Entwicklung. Wie das Reich die Eigenart und Selbständigkeit der Bundesstaaten nicht aufgehoben hat, so stellt das BGB. zwar ein Gesetz dar, das den Deutschen das stolze Gefühl geben kann, nun endlich ein gemeinsames Privatrecht zu haben; aber auch auf diesem Gebiet ist den deutschen Gliedstaaten in gewissen Grenzen die Befugnis zur landesgesetzlichen Regelung geblieben. Soweit diese auf die örtlichen Verschiedenheiten Rücksicht zu nehmen hat, sind die zugunsten der Landesgesetzgebung gemachten Vorbehalte zu billigen. Es ist aber nicht zu [261] verkennen, daß diese vielfach darüber hinausgehen und gemacht worden sind, um Gründe, die das Zustandekommen des BGB. hätten hindern können, aus dem Wege zu räumen. Soweit dieser Gesichtspunkt reicht, muß man sagen, daß das heiße Sehnen nach Rechtseinheit noch nicht erreicht ist und auf bessere Zeitumstände vertröstet werden muß.

Einheit des Privatrechts.

Den Hauptwert des BGB. müssen wir darin sehen, daß überhaupt die Einheit des Privatrechts erlangt worden ist. Das war ein gewaltiger Fortschritt, der um so höher einzuschätzen ist, als das einheitliche Privatrecht in der Hauptsache für den Deutschen auch in den Schutzgebieten und in den Konsulargerichtsbezirken gilt. Fragen wir nun, ob das BGB. inhaltlich einen ebenso großen oder auch nur vergleichbar großen Fortschritt gebracht hat (etwa in der Art, wie das neue Schweizer Zivilgesetzbuch), so muß diese Frage leider verneint werden. Das Gesetz ist zwar in unserer Muttersprache geschrieben, aber die Volkstümlichkeit fehlt ihm völlig; es steht in dieser Beziehung weit hinter dem preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, dessen Lichtseiten man unter dem Banne der von der historischen Schule herstammenden Mißachtung verkannte, und auch hinter der Wechselordnung und dem Handelsgesetzbuch zurück und wird, solange es die gegenwärtige Gestalt hat, eine Geheimkunde derjenigen Juristen bleiben, die mit umfassenden Vorkenntnissen ausgerüstet das Gesetz befragen. Neue große Rechtsgedanken sind im BGB. nicht enthalten; es bewegt sich in den Gedankenkreisen, die in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts herrschten, und ist im wesentlichen eine ausgleichende Darstellung des damals geltenden Rechts, und zwar in der Hauptsache des sog. gemeinen (d. h. auf dem rezipierten römischen Rechte beruhenden) Rechts. Mehr konnte es auch nicht werden, nachdem man sich entschlossen hatte, es durch vielgliedrige Kommissionen ausarbeiten zu lassen, während es doch eine unbestreitbare Wahrheit ist, daß ein großes und einheitliches Werk nur im Kopfe eines Menschen entstehen und in guter Form nur aus einer Feder fließen kann. Sodann ist zu beachten, daß das BGB. aus einer Zeit stammt, in der der Blick der deutschen Welt noch nicht weit über die deutschen Grenzen hinausreichte, jedenfalls nicht der Blick der damaligen Juristenwelt, aus der selbstverständlich die gereiftesten, also die älteren Kräfte an dem Werke beteiligt waren. Überdenkt man den ungeheuren Umschwung, der sich in unseren Verhältnissen unter weitblickender Führung vollzogen hat, so ist es sicher, daß heute die Art der Vorbereitung und Ausführung eines so bedeutungsvollen Werkes, wie es das BGB. ist, eine andre sein würde. Das Hauptgewicht legten die Verfasser des ersten Entwurfs des BGB. auf die möglichst konsequente Durchführung von Rechtsprinzipien – ein Fehler, der unbegreiflich für alle die ist, die sich dessen bewußt sind, daß das Leben nicht um des Rechts wegen ist, sondern das Recht der Förderung der berechtigten Lebensinteressen zu dienen hat, – ein Fehler, der von der zweiten Kommission erkannt und in manchen Punkten beseitigt worden ist.

Ein gerechtes Urteil kann diese Unvollkommenheiten und Schattenseiten der deutschen Privatrechtsordnung nicht übergehen. Sie müssen für alle, die es angeht, ein Ansporn sein, darauf zu sinnen, wo und wie demnächst gebessert werden kann. Eine andre große [262] Aufgabe für Praxis und Wissenschaft ist die Entwicklung der lex lata und der Ausbau der fort und fort sich zeigenden Lücken gemäß den Bedürfnissen der Gegenwart. Immer neue schwere Fragen tauchen auf, und namentlich die den Schutz der Persönlichkeit und die sozialen Kämpfe betreffenden Probleme stellen, solange das Gesetz nicht regelnd eingegriffen hat, den Richter vor außerordentlich verantwortungsvolle Aufgaben. – Nicht unerwähnt darf die große Aufgabe bleiben, die den gesetzgebenden Körperschaften durch die Einführung des BGB. gestellt und durch die mit bewundernswertem Fleiße gearbeiteten Ausführungsgesetze gelöst worden ist.

Nebengesetze der BGB.

Gleichzeitig mit dem BGB. traten eine Reihe von andren Gesetzen in Kraft, die in innerem Zusammenhange mit ihm stehen. Außer den Ausführungsgesetzen, die von den einzelnen Bundesstaaten erlassen wurden, müssen hier erwähnt werden: das Handelsgesetzbuch (vom Jahre 1861), das mit Rücksicht auf das BGB. umgearbeitet und in einzelnen wichtigen Beziehungen geändert wurde, aber auch in der neuen Gestalt die es auszeichnende klare Verständlichkeit und echte Volkstümlichkeit nicht verloren hat; ferner das Reichsgesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit (der erste, gut gelungene Versuch, diese wichtige Materie einheitlich zu regeln) und die Reichsgrundbuchordnung, die eine wesentliche Ergänzung des Immobiliarsachenrechts des BGB. bildet.

Sonstige privatrechtliche Gesetze.

Aus der großen Zahl der privatrechtlichen Gesetze, die außer dem BGB. und seinen Nebengesetzen in den letzten 25 Jahren erlassen worden sind, können hier nur diejenigen charakterisiert werden, die eine größere Bedeutung für das Rechtsleben haben.

In einer ersten Gruppe seien diejenigen Gesetze erwähnt, die solche Materien regeln, die dem allgemeinen bürgerlichen Recht angehören. Auf den Schutz der kapitalschwachen Kreise der Bevölkerung zielt das Gesetz über die Abzahlungsgeschäfte (1894) ab; es schützt den Käufer besonders gegen die Gefahr, dadurch ausgebeutet zu werden, daß dem Vertrag für den Fall der Nichtzahlung einer Rate die Verwirkungsklausel beigefügt wird und er so die abgezahlten Beträge verliert. Beifallswert ist auch die Absicht des Bauforderungsgesetzes (1909), das nach langen Vorarbeiten den Versuch macht, der Ausbeutung der Bauarbeiter durch gewissenlose Bauherren und Bodenspekulanten entgegenzutreten, in seinem (zweiten) Hauptteil aber bis jetzt noch nirgends in Kraft gesetzt worden ist. Ebenso zielt auf die Bekämpfung von Mißbräuchen das für die arbeitsuchenden Kreise wichtige Stellenvermittlergesetz von 1910 ab. Das außerordentlich schwierige Problem, wie die mittlere Linie zwischen den Interessen der Lenker und Benutzer von Kraftfahrzeugen einerseits und des durch ihre Schnelligkeit gefährdeten Publikums andrerseits zu finden sei, wurde durch das Gesetz vom 3. Mai 1909 gelöst. Echten modernen Geist atmet das nach dem Muster des kurz zuvor zustande gekommenen preußischen Gesetzes im Jahre 1910 erlassene Gesetz, nach dem der Staat die Haftung für den Schaden übernimmt, der von seinen Beamten in Ausübung der obrigkeitlichen Gewalt zugefügt wird. Der Erleichterung und Sicherung des in den letzten Jahrzehnten [263] sehr schnell gewachsenen internationalen Verkehrs dienen die Haager Abkommen von 1902 über die Eheschließung, die Ehescheidung und die Altersvormundschaft.

Gesetzgebung auf dem Gebiete des geistigen Eigentums.

Außerordentlich umfangreich, für die Förderung der geistigen und wirtschaftlichen Kultur wichtig und für die Rechtsentwicklung der Neuzeit charakteristisch ist die Tätigkeit der Gesetzgebung auf dem Gebiete des „geistigen Eigentums“ (so der früher übliche und in der Reichsverfassung Art. 4 Nr. 6 gebrauchte Ausdruck) oder, wie man neuerdings in der Regel zu sagen pflegt, des Urheber- und Erfinderrechts. Die seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts beginnende auf die Anerkennung dieser Rechte gerichtete Rechtsentwickelung führte bereits im Jahre 1870 zum Erlaß des Bundesgesetzes über das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken; im Jahre 1876 folgten drei Gesetze zum Schutze der Werke der bildenden Künste, der Photographien und von Mustern und Modellen; das erste Patentgesetz wurde im Jahre 1877 erlassen. Der Geschichte der letzten 25 Jahre gehören die Revision und die Ergänzung dieser Gesetze an; sie geben ein eindrucksvolles Bild von der ungeheuren Bedeutung, die die geistige Arbeit in den letzten Jahrzehnten für die wirtschaftliche Blüte des deutschen Volkslebens und im internationalen Verkehr gewonnen hat.

Im Jahre 1901 wurde das neue Gesetz über das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst erlassen; in engster Beziehung zu ihm steht das eine große Lücke im deutschen Recht ausfüllende Verlagsgesetz vom 19. Juni 1901. Der Schutz der künstlerischen Tätigkeit wurde neu geordnet im Gesetz vom 9. Januar 1907 betr. das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie. Das Patentgesetz, das für die großen wirtschaftlichen Unternehmungen besonders wichtig ist, wurde im Jahre 1891 umgestaltet, wartet aber schon wieder auf eine Revision. Gewissermaßen eine Ergänzung des Patentgesetzes bildet das Gesetz vom 1. Juni 1891 betr. den Schutz von Gebrauchsmustern; auch das für den gewerblichen Verkehr wichtige Gesetz von 1894 zum Schutze der Warenbezeichnungen mag an dieser Stelle genannt werden.

Alle diese Gesetze wollen dem geistigen Arbeiter die wirtschaftliche Ausnutzung seines Werkes garantieren. Indem sie dies tun, spornen sie nicht nur die geistige Tätigkeit an; vielfach ermöglichen sie sie erst dadurch, daß nun der geistige Arbeiter sicher ist, die großen Auslagen, die die Arbeit oft erfordert, wiederzuerlangen, wenn sie Erfolg hat. Gesetze dieser Art genügen also nicht nur einem Gebote der Gerechtigkeit, sondern werden auch durch die Rücksicht auf die wirtschaftlichen Interessen der Gesamtheit gefordert. Aber noch ein andrer Gesichtspunkt kommt bei diesen Fragen in Betracht. Die geistige Schöpfung gehört dem Schöpfer an, er offenbart sich in ihr und bedarf des Schutzes dagegen, daß seine Individualität, sein Privatleben gegen seinen Willen an die Öffentlichkeit gezogen wird. Dieses Schutzes bedarf er nicht nur, wenn sein Werk wirtschaftlichen Wert hat, so daß es in diesem Sinne schutzfähig ist, sondern auch und sogar noch mehr dann, wenn dies nicht der Fall ist, durch die Veröffentlichung aber (z. B. von Briefen, die nur über Privatangelegenheiten berichten und keinerlei literarischen Wert haben) schutzwürdige [264] Privatinteressen verletzt werden. In einer kurzen Formel ausgedrückt handelt es sich um den Schutz der Persönlichkeit in Beziehung auf ihre Geheimsphäre (die Tatsachen und Angelegenheiten, die ihr Privatleben betreffen). Der Rechtsgedanke, daß hier ein Schutz geboten ist, ist in der Reichsgesetzgebung im Keim enthalten (vgl. Urhebergesetz § 10, Kunstschutzgesetz §§ 17, 22, 30, Patentgesetz § 10 Nr. 3), aber noch nicht mit völliger Klarheit und nicht umfassend genug herausgearbeitet. Diese Aufgabe ist der Wissenschaft und Praxis vorbehalten geblieben; man arbeitet an ihrer befriedigenden Lösung. Streit und Zweifel sind nicht ausgeblieben; aber im Streite der Meinungen muß und wird eine befriedigende Lösung gefunden werden, weil die Rechtsvernunft und die Gerechtigkeit sie gebieterisch fordern. Der Grund dafür, daß dies noch nicht gelungen ist oder, besser gesagt, daß die richtige Lösung noch keine allgemeine Anerkennung gefunden hat, liegt darin, daß der Begriff des Persönlichkeitsrechts noch um seine Anerkennung zu kämpfen hat. Die Vorstellung, daß das Privatrecht die Aufgabe hat, die vermögensrechtlichen Interessen zu schützen, beherrscht noch weite Kreise so sehr, daß sie besondere gesetzliche Vorschriften verlangen, wenn der Person als solcher privatrechtlicher Schutz zuteil werden soll. Auf diesem Standpunkte steht auch die Praxis unseres höchsten Gerichtshofs. Aber die Macht der Verhältnisse hat sich doch schon als so stark erwiesen, daß das Reichsgericht trotzdem bereits in weitem Maße das Recht der Persönlichkeit (das Recht auf Achtung der Person als solcher, das Recht, die Persönlichkeit in den Schranken des Rechts frei und nach eignem Belieben zu betätigen) praktisch anerkennt. Allerdings geschieht dies zurzeit noch auf Umwegen, deshalb lückenhaft und in einer dem Bedürfnis des Rechtslebens nicht voll genügenden Weise.

Auf keinem andren Gebiete zeigt sich so wie auf dem des Urheber- und Erfinderrechts die Interessengemeinschaft, die die Kulturvölker mit einander verbindet, und die große Rolle, welche die geistige Arbeit Deutschlands jetzt in der Welt spielt. So haben auch wir uns an den internationalen Übereinkommen beteiligt, die auf den internationalen Schutz des geistigen Eigentums hinzielen und die Anfänge eines Weltrechts darstellen. Dem gegenseitigen Schutze von Werken der Literatur und Kunst dient die Berner Übereinkunft vom 9. September 1886 nebst der Zusatzakte und der Deklaration von Paris vom 4. Mai 1896, revidiert durch die Berliner Übereinkunft vom 13. November 1908, zu der ein der Ausführung dienendes Reichsgesetz vom 22. Mai 1910 erlassen worden ist. Zum Schutze des gewerblichen geistigen Eigentums wurde unter dem 20. März 1883 eine internationale Übereinkunft (der sogenannte Unionsvertrag) geschlossen, der Deutschland 1903 beitrat, nachdem sie durch die Brüsseler Zusatzalte vom 14. Dezember 1900 revidiert worden war.

Handelsrecht.

Auf dem Gebiete des Handelsrechts war die Gesetzgebung der letzten 25 Jahre in reichem Maße tätig. Die Umarbeitung des HGB. wurde bereits erwähnt. Daneben finden wir eine größere Reihe von Gesetzen, die einzelne Zweige regeln. Erwähnt seien zunächst Gesetze, welche Gesellschaftsformen außer denen des HGB. neu schufen oder doch neu ordneten. Dies sind die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften und die Gesellschaften mit beschränkter [265] Haftung. Die ersteren dienen vorzugsweise dem Interesse des Mittel-, insbesondere des Handwerkerstandes. Ihre erste Regelung fanden sie in dem preußischen Gesetze vom 27. März 1867, das durch das Bundesgesetz von 1868 abgelöst wurde. Charakteristisch ist das Prinzip, daß alle Genossen für die Schulden der Genossenschaft solidarisch einzustehen haben. Im Jahre 1889 wurde dieses Gesetz neu gefaßt und erhielt auch später noch einzelne Abänderungen; neu war die Zulassung von Genossenschaften mit einer beschränkten Haftpflicht der Genossen, zu dem Zwecke, die Bildung dieser im deutschen Wirtschaftsleben eine große Rolle spielenden Gesellschaftsform (Konsumvereine, Molkereien, Raiffeisensche Genossenschaften usw.) dadurch zu erleichtern, daß die wohlhabenderen Genossen vor der Gefahr bewahrt werden, in unverhältnismäßiger Weise zur Deckung der Genossenschaftsschulden herangezogen zu werden. – Trotz des Reichtums an Gesellschaftsformen schuf das Reichsgesetz vom 20. April 1892 in den Gesellschaften mit beschränkter Haftung noch eine neue Form, in der die Kapitalverbindung ihre Zwecke verfolgen kann. Am nächsten ist sie mit den Aktiengesellschaften verwandt. Der Unterschied liegt hauptsächlich in der Erleichterung der Begründung, in der freieren Verfassung und in dem Wegfall des Zwangs zur Veröffentlichung der Jahresbilanzen. Von manchen Seiten mit Mißtrauen empfangen, hat die neue Gesellschaftsform in kurzer Zeit eine geradezu überraschende Verbreitung gefunden, so daß das in ihr arbeitende Vermögen nach Milliarden zählt. Aber wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Es ist unzweifelhaft, daß diese Form leichte Gelegenheit zu unlauteren Schiebungen bietet und zu diesem Zwecke vielfach benutzt wird. Es ist eine schwierige Frage, wie diesen Mißbräuchen entgegengetreten werden kann.

Andre wichtige Ergänzungen findet das HGB. hinsichtlich des Transportrechts. Hierüber sind mehrere Spezialgesetze erlassen. Neben dem Berner Übereinkommen vom 14. Oktober 1890 zur Regelung des internationalen Eisenbahnfrachtverkehrs und dem die Postbeförderung regelnden im Jahre 1899 abgeänderten Postgesetz von 1871 ist von großer Wichtigkeit das Binnenschiffahrtsgesetz vom 15. Juni 1896 und das Flößereigesetz vom gleichen Tage. Den Seetransport berührt die neue Seemannsordnung von 1902 insofern, als sie die Rechtsverhältnisse der Schiffsbesatzung regelt.

Das Börsengesetz vom Jahre 1896, abgeändert durch Gesetz vom 8. Mai 1908, ist in der Hauptsache verwaltungsrechtlichen Inhalts, greift aber hinsichtlich der Börsengeschäfte in das privatrechtliche Gebiet ein, indem es den ungesunden Börsenterminhandel einschränkt. Das Depotgesetz vom 5. Juli 1896 wurde durch die Schädigungen veranlaßt, welche Kunden von Bankiers durch Veruntreuung der diesen anvertrauten Wertpapiere erlitten; es sucht ihnen durch strengere Vorschriften über die Eigentumsfrage und die Pflicht zu gesonderter Aufbewahrung entgegenzutreten. Seit langer Zeit vergeblich erwartet waren das im Jahre 1908 erlassene Scheckgesetz und die Postscheckordnung; sie brachten uns die für unsere Geldverhältnisse unbedingt erforderliche Ersparung von Barzahlungen. Das schwierige Problem, die Grenze zwischen erlaubter und in den erlaubten Grenzen für gesunde wirtschaftliche Verhältnisse notwendiger freier Konkurrenz und illoyaler Schädigung der Konkurrenten zu ziehen, suchte das Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes vom 27. Mai 1896 zu lösen. Am [266] 7. Juni 1909 wurde es bereits umgestaltet. Auf das Gegenstück, ein Gesetz, das der übermäßigen Ausbeutung durch Kartelle und Syndikate entgegentritt, warten wir noch immer.

Privates Versicherungswesen.

Das private Versicherungswesen hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts großartig entwickelt. Aber die privatrechtliche Regelung bezog sich in Deutschland nur auf die Seeversicherung (geregelt bereits im Preuß. ALR. und im HGB.). Im übrigen überließ man es bis in die neueste Zeit den Beteiligten, das Versicherungsverhältnis durch Verträge zu regeln. Daß dies im allgemeinen in befriedigender Weise gelungen war, ergibt sich aus der ungeheuren Verbreitung der Versicherungen. Erst in neuester Zeit hat die Gesetzgebung eingegriffen. Zuerst erging das Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmungen vom 12. Mai 1901; im wesentlichen hat es öffentlich-rechtlichen Charakter; es regelt die Zulassung zum Geschäftsbetrieb, das Verhältnis der Gegenseitigkeitsvereine und die staatliche Beaufsichtigung durch das kaiserliche Aufsichtsamt für Privatversicherung. Eine Regelung des Versicherungsvertrages selbst kam erst in dem Gesetz vom 30. Mai 1908 zustande. Es enthält in der Hauptsache den Niederschlag der Grundsätze, die bisher als Vertragsrecht (namentlich in Gestalt von allgemeinen Versicherungsbedingungen) Geltung hatten, ist aber ausgezeichnet durch sozialen Geist insofern, als es durch zwingende Normen die Beachtung von Treu und Glauben vorschreibt und den Versicherungsnehmer, der als einzelner immer der schwächere Teil ist, gegen die Übermacht der Versicherungsgesellschaften sicherstellt. –

Zivilprozeßrecht.

Das Zivilprozeßrecht regelt die staatliche Rechtspflege in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten. Es bildet eine notwendige Ergänzung des Privatrechts, weil dessen Vorschriften lebendige Kraft erst dadurch erhalten, daß sie das Verhalten der Beteiligten bestimmen; das tun sie aber nur dann, wenn die Gewißheit besteht, daß die Rechtsordnung durch ihre vom Staate dazu gesetzten Hüter gegen die Störer aufrechterhalten wird. Eine gute Prozeßgesetzgebung liegt deshalb nicht nur im unmittelbaren Interesse der beteiligten Privaten, sondern auch im öffentlichen Interesse: Justitia fundamentum regnorum.

Die bereits zur Zeit des Deutschen Bundes begonnenen und nach seiner Auflösung alsbald fortgesetzten Arbeiten zur Aufstellung einer neuen Zivilprozeßordnung fanden schon im Jahre 1877 in erweitertem Rahmen ihren Abschluß. Unter den damals erlassenen Reichsjustizgesetzen interessieren hier nur die Zivilprozeßgesetze. Mit großen Hoffnungen begrüßte man den 1. Oktober 1879, an dem sie in Kraft traten, weil man glaubte, im Anschluß an die französische Gesetzgebung eine Ordnung des Verfahrens gefunden zu haben, die es ermöglichen werde, schnelle und doch gute Justiz zu machen. Aber die praktischen Erfahrungen brachten eine große Enttäuschung. Sie mußten sie bringen, weil man, anstatt mit der Wirklichkeit zu rechnen und ein Verfahren vorzuschreiben, das praktisch durchführbar ist und im Durchschnitt der Fälle gut funktioniert, mit idealen Richtern, idealen Anwälten und idealen Parteien rechnete und das Hauptgewicht auf [267] die konsequente Durchführung von Prozeßprinzipien legte. Die Herrschaft über den Prozeß nahm man dem Gericht und legte sie ebenso wie die Betreibung des Prozesses (durch Zustellung und Ladung) in die Hände der Parteien oder richtiger ihrer Anwälte. Ganz rein und voll wurde das Prinzip der Mündlichkeit durchgeführt, so konsequent und – weltfremd, daß das Gesetz sogar vor dem Amtsgerichte von den Bürgern und Bauern verlangte, daß sie dem Richter den Prozeßstoff in freier Rede vortragen sollten.

Nun begann in den achtziger Jahren eine eigentümliche Rechtsentwicklung. Das ist der Ruf und die Verwirklichung des Rufs nach Sondergerichten. Daß die Mängel des Verfahrens, die mehr und mehr hervortraten, von den Vätern der ZPO. nicht zugegeben wurden, oder daß doch ihr Grund nicht im System, sondern in andren Umständen gefunden wurde, ist leicht erklärlich, sonach auch die Folge: das Unterbleiben einer gründlichen Revision der Prozeßordnung. Nicht für eine solche verwertete man die bessere Einsicht, die man inzwischen gewonnen hatte, sondern für die Ausgestaltung des Verfahrens vor den durch das Gesetz über die Gewerbegerichte vom 29. Juli 1890 eingerichteten Sondergerichten für gewerbliche Streitigkeiten. Durch Gesetz vom 30. Juni 1901 wurde dieses Gesetz revidiert, und nach seinem Muster wurde unter dem 6. Juli 1904 das Gesetz über die Kaufmannsgerichte erlassen. Gewiß war der Grund für diese Gesetze nicht nur die Unzufriedenheit mit dem ordentlichen Prozesse, sondern auch das Bestreben, die hier in Frage kommenden Streitigkeiten durch Gerichte entscheiden zu lassen, in denen nicht nur die Rechtskunde, sondern auch eine besondere Kunde der in Frage stehenden Verhältnisse vertreten war. Aber diesen die moderne Rechtsbewegung nicht nur auf dem Gebiete des Strafprozesses charakterisierenden Bestrebungen hätte man auch dadurch genügen können, daß man jene Standesgerichte den Amtsgerichten angegliedert hätte. Dazu hätte es jedoch einer allgemeinen Prozeßreform bedurft, zu der man noch nicht die Lust oder die Kraft hatte.

Zwar wurde die Prozeßordnung und Konkursordnung durch eine umfassende Novelle von 1898 umgestaltet; diese beschränkte sich aber im wesentlichen auf solche Punkte, in denen das Prozeßrecht in so innigem Zusammenhange mit dem bürgerlichen Rechte steht, daß mit dessen Änderung auch eine Änderung oder Ergänzung des Prozeßrechts notwendig schien. So trat denn auch die Novelle von 1898 zusammen mit dem BGB. am 1. Januar 1900 in Kraft, gleichzeitig mit einem umfassenden Spezialprozeßgesetze, das die Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen regelt, eine Materie, die man bis dahin mit Rücksicht auf die Verschiedenheit des Immobiliarsachenrechts dem Landesrecht hatte überlassen müssen. Die umstrittenen Grundsätze über das Verfahren, auf die sich der Ruf nach einer Prozeßreform bezog, ließ diese erste große Novelle von 1898 unberührt. Nachdem zwecks Entlastung des Reichsgerichts die Revisionssumme von 1500 auf 2500 Mark erhöht worden war (im Jahre 1910 wurde abermals eine Erhöhung auf 4000 Mark nötig), folgte am 1. Juni 1909 eine zweite große Novelle. Der Entwurf wollte sich grundsätzlich auf eine Reform des Amtsgerichtsprozesses beschränken, griff aber doch in wenigen Punkten auch in das landgerichtliche Verfahren ein. Durch den Reichstag wurden diese Punkte erheblich vermehrt. Gleichwohl ist der Landgerichtsprozeß grundsätzlich derselbe geblieben, wie er bisher war. Die wesentlichste Änderung des [268] Amtsgerichtsprozesses besteht darin, daß jetzt der äußere Prozeßbetrieb (Zustellung und Ladung) dem Gerichte zurückgegeben ist. Sodann ist das gesetzlich sanktioniert, was die Macht der Verhältnisse bis dahin schon erzwungen hatte: die Beseitigung der Fiktion, daß die Parteien dem Amtsrichter das Streitverhältnis in freier Rede vortrügen. Nunmehr ist bestimmt, daß der Richter mit den Parteien das Sachverhältnis zu erörtern hat und daß die Bezugnahme auf Schriftstücke genügt (ZPO. § 502).

Der Rückblick auf die Zivilprozeßgesetzgebung ist hiernach kein erfreulicher. Wir haben eine Zwiespältigkeit in den Grundsätzen, die vor dem Amtsgericht und Landgericht gelten, und die Hauptschäden des heutigen Verfahrens harren noch der Heilung. Wie schwer die zu lösende Aufgabe ist, haben schon die hier gemachten Andeutungen gezeigt. Überblickt man die Geschichte der Prozeßgesetzgebungen, so zeigt sich, daß jedem neuen Prozeßgesetz die heftigsten Klagen über die Justizzustände vorausgehen. Ist die neue Ordnung erlassen, so verstummen die Klagen auf kurze Zeit, um dann von neuem zu beginnen. Die Erklärung liegt darin, daß sich im Prozesse die menschlichen Schwächen besonders stark zeigen. Mit der schlechtesten Prozeßordnung können ausgezeichnete Richter und Anwälte die besten Erfolge herbeiführen; die beste Prozeßordnung hilft nicht durchgreifend gegenüber der Trägheit, der Unfähigkeit oder dem bösen Willen der Prozeßbeteiligten.

Stand 18. September 2014